Oberpostmeister Karl Schreiber
Während einer 14-monatigen Recherche in allen möglichen Institutionen einschließlich der jüdischen Gemeinde in Decin /Tschen und Prag, nach vielen Stunden der Suche in Onlinedatenbanken und vielem Blättern in Archiven, habe ich einen früheren Bewohner unserer Gemeinde gefunden, der jüdischer Herkunft war.
Obwohl es nicht die Geschichte ist, die ich gesucht habe, denke ich, es ist eine sehr interessante und bewegende Geschichte.
Es handelt sich um die Geschichte von Herrn Karl Schreiber, Oberpostmeisters aus Neustadtl, Sohn von Dr. Josef Schreiber und der Lehrerin Stephanie Schreiber. Wie ich festgestellt habe, stammt Herr Karl Schreiber tatsächlich aus einer jüdischen Ehe, aber hat eine Deutsche geheiratet. Aus diesem Grund haben die Rassengesetzte des Dritten Reiches nicht in vollem Umfang gegolten.
Er wurde nicht in ein Konzentrationslager interniert und hat den Zweiten Weltkrieg in Neustadtl überlebt.
Der Name „Schreiber“ war in jüdischen Gemeinden sehr verbreitet. Aus dem nahe gelegenen Konzentrationslager Theresienstadt wurden 83 Menschen mit diesem Familiennamen in Vernichtungslager deportiert.
Postamt in Neustadtl
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde dem Oberpostmeister und Rentner aus Neustadtl, Herrn Karl Schreiber klar, welche neue Gefahr seiner Familie und ihm durch die Vertreibung der Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei droht.
So hat er nicht gewartet und hat schon am 16. Juni 1945 begonnen, dieser Ungerechtigkeit entgegenzutreten.
Sein ganzes Leben hat er ehrlich und fleißig für seine Gemeinde und das Land, zunächst für die österreichisch-ungarische Monarchie und dann für die Tschechoslowakische Republik gearbeitet.
Der Oberpostmeister hat einen Brief an seinen lebenslangen Arbeitgeber, die Post- und Telegraphendirektion in Prag verfasst.
Dieses Schreiben hat Herr Karl Schreiber am 16. Juni 1945 aus Ceska Lipa geschickt.
Der Brief enthielt seine kurze Biografie und die Bitte um Hilfe bei der Erledigung seines Gesuches nicht vertrieben zu werden.
Sie können diesen Brief in deutscher Übersetzung lesen.
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„An Post- und Telegraphdirektion in Prag
So wie ein hilfesuchendes Kind zu seine Mutter läuft, so bin auch ich, ein alter Rentner gezwungen, die Direktion mit einer großen Bitte belästigen.
Anbei meine kurze Biografie:
Ich bin im Mai 1857 als Sohn des Arztes Dr. Joseph Schreiber in Valterice Nr. 99 bei Ceska Lipa geboren. Als Schüler wurde ich nach Melnik geschickt um tschechisch zu lernen.
Im Jahr 1870 bekam ich als Praktikant einen Ausbildungsplatz in einer Großhandlung in Prag. Dort habe ich auch die Handelsschule besucht und mir das Kaufmannswissen erworben.
Ich blieb in Prag bis 1877, als ich zum Wehrdienst einberufen wurde. Wegen meiner guten Zeugnisse wurde ich schon nach dem zweitem Jahr Feldwebel beim 4. Infanterieregiment.
Nach der neugegründeten Postabeilung in Jezve bei Ceska Lipa im Jahre 1885 habe ich ein Gesuch abgegeben, wobei ich meine sowohl schriftlichen als auch mündlichen Kenntnisse der tschechischen und deutschen Sprache aufgeführt habe.
Mein Antrag wurde genehmigt und am1. Juli 1885, nach der Ausbildung, trat ich den Dienst an.
Schon am 1 Juli 1886 wurde ich als Postmeister der Prager Postdirektion unter Nr. 36595 und am 13. Mai 1920 unter der Nr. 92000/1920 III als Oberpostmeister VII. Klasse ernannt.
Meine Dienstzeugnisse für die Jahre 1920, 1921, 1922 und 1923 sind mit der Note “sehr gut” bewertet, was Bestätigung meiner Fähigkeiten war.
In die Pension bin ich am 23. September 1923 unter der Nummer 147917 mit Lob und Anerkennung verabschiedet worden.
Meine Pension wurde durch das Dekret 206618-1930-IV vom 25. 9. 1930 auf CZK 1864,00 monatlich in bar gesetzt.
Vom 1. November 1938 an habe ich von der Postdirektion in Usti nad Labem RM 223,68 und nach dem 1. Januar 1941 RM 271,17 pro Monat erhalten.
Mir persönlich und meiner Familie (meine Tochter war mit einem tschechischen Beamten verheiratet) ging es in den vergangenen 7 Jahren sehr schlecht, weil ich nicht rein “arisch” war.
Mein Vater war Dr. Joseph Schreiber, der als Sohn jüdischer Eltern, im tschechischen Lipa im Jahre 1807 geboren wurde.
Es ist unvorstellbar, was uns alles angetan wurde und wie wir demütiget wurden.
Meine Gesundheit litt sehr unter dem ständigen Hass der Nazis.
Meine ganze Familie war in keiner Weise NSDAP verbunden.
Durch diesen, meinen Lebenslauf, so hoffe ich, habe ich den Weg vorbereitet für die großen Bitte, die ich jetzt vorzutragen wage:
Bitte höflich, mich vom 1. 7. 1945 in die Reihen der Rentnern einzuordnen und mir die Rente in voller Höhe zu zahlen.
Wenn Sie diese meine Bitte erfüllen, würden Sie viel Gutes tun, und ich versichere Ihnen im Voraus große Dankbarkeit.
Jezvé bei Ceks Lipa 16. Juni 1945
Karl Schreiber
Oberpostmeister im Ruhestand
Jezvé 38“
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Hier ist noch der Brief in der ursprünglichen Fassung der an den Bezirksvolksausschuss in Ceska Lipa geschickt wurde.
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„Bezirks Volksausschuss in Ceska Lipa
Rentner, Oberpostmeister Karl Schreiber aus Jezve bei Ceska Lipa, über 88 Jahre alt bittet, gemeinsam mit seiner Ehefrau Sofie Schreiberova und seiner Tochter Elisabeth Jichova, die über 60 Jahre alt ist nicht auszusiedeln.
Ich und meine Familie leben in Jezve schon 60 Jahre.
Ich bin Sohn jüdischer Eltern, mein Vater war Arzt in Valterovice bei Ceska Lipa und ist im Jahre 1839 gestorben. Geboren wurde er im Jahre 1807.
Wir bitten Sie gefällig den beigefügten Abdruck eines Gesuchs, gesendet am 16. diesen Monats an Post und Telegraphen Direktion in Prag anzusehen, in dem alle Fakten aufgeführt wurden, mit denen ich mein Gesuch zu begründen beabsichtige.
Weder ich noch meine Frau und Tochter sind der politischen Partei NSDAP beigetreten und waren nie bei irgendwelchen Hitler-Aktionen anwesend.
Wir haben damit nichts gemeinsam gehabt.
Aus diesen Gründen bitten wir erneut um Erhörung meines Gesuchs.
Jezvé bei Ceska Lipa 20. Juni 1945
Karl Schreiber
Oberpostmeister i. R.
Jezvé 38“
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Eltern Grab Herr Karl Schreiber
Herr Karl Schreiber hatte kein leichtes Leben. Als Kind, wie er selbst schreibt wurde er von Zuhause nach Melnik geschickt, um tschechisch zu lernen, mit 13 war er bereits in Prag als Praktikant, wo er ebenfalls die Handelsschule besucht hat.
In Prag war er bis zu seiner Einberufung zum dreijährigen Militärdienst am Jahre 1877.
Nach der Rückkehr aus dem Militärdienst hat er sich um eine Anstellung auf dem neu entstandenen Postamt in Jezve beworben.
Er hat die Stelle bekommen und das wurde seine lebenslängliche Beschäftigung.
Kurz nach dem Militärdienst im Jahre 1881 heiratete er Theresia Langer-Hanke und am 23. November 1881 wurde ihr Sohne Adalbert Schreiber geboren.
Am 17. Juli 1904, ist sein Sohn, ein vielversprechender Jurastudent tragisch ums Leben gekommen, vermutlich als Folge einer Verletzung während des Militärdienstes im 26. Kaiserlich-Königlichen Artillerieregiments.
Im Jahr 1885, in Newustadtl ist Tochter Ella geboren, die einen Beamten mit Namen Jicha geheiratet und mit ihm Tochter Marketa gehabt hat, die Enkelin von Herrn Schreiber.
Im Jahre 1893 starb sein Vater, Dr. Josef Schreiber, ein Arzt aus Waltersdorf und Zweitgeborener eines jüdischen Kaufmanns namens Israel Schreiber, aus Ceska Lipa.
Israel Schreiber war ein, sogenannter „Schutzjude“, ein Jude unter der Obhut des Dorfes.
Für diese Obhut und das Recht Händler zu sein, muss er zahlen und diese „Schutzrecht“ war nicht unerblich.
Dr. Josef Schreiber ist auf dem Neustadtl -Friedhof begraben, was darauf hindeutet, dass er die letzten Jahre seines Lebens bei seinem Sohn Karl verweilte.
Eine weitere Katastrophe, die Herrn Schreiber passiert ist , war der Tod seiner Frau Theresia am 13. Mai 1919
Im Jahre 1915 starb Karls Mutter Stefanie, die Industrielehrerin aus Waltersdorf, dem Ort, wo seine beiden Eltern lebten und arbeiteten. Stefanie wurde begraben auf dem Friedhof in Neustadtl neben ihren Mannes Joseph.
Im Jahr 1921 wurde, bereits im Haushalt lebende Theresie Lösel aus Wernsdorf seine zweite Frau.
Im September 1923 schied Herr Oberpostmeister aus dem Dienst mit dem Plan einen ruhigen Lebensabend zu genießen.
Schule in Waltersdorf
Auch als Rentner, war er ein angesehener Bürger seines Dorfes und führte ein sehr aktives Leben.
Er war Direktor des Spar – und Darlehensbüro für Neustadtl und Umgebung und als militärischer Veteran war er Ehrenkommandant des Veteranenverbandes Neustadtl-Straussnitz, wo er mit seiner Frau Mitglied war.
Es war eine Zeit, wo es nicht wichtig war, ob jemand jüdisch, deutsch oder tschechisch war.
Alles wurde aber bald anders und das Schicksal hat die Karten anders verteilt, als sich der Herr Oberpostmeister im Ruhestand das vorgestellt hat.
Im Jahr 1933 kam Adolf Hitler an die Macht.
Er machte keinen Hehl aus seinen Ambitionen und über Europa brauten sich Kriegswolken zusammen.
Im Jahr 1935 treten die Nürnberger Rassengesetze in Kraft, die Juden aus dem Gesellschaftsleben ausgeschlossen haben.
Die haben hier aber noch nicht gegolten, aber im Jahre 1938 brach der II. Weltkrieg aus, jetzt war auch die Tschechoslowakei betroffen.
Es ist schwer sich vorzustellen, welche Gefühle Herr Schreiber in seinem Alter und mit seiner jüdischen Herkunft während des Krieges gehabt haben mag, insbesondere als er sah und hörte, was mit Juden geschah.
Er sah, wie ihre Rechte ausgehöhlt, wie sie nach Theresienstadt transportiert wurden, ohne noch zu wissen, was folgt, was damals ein streng gehütetes Geheimnis war – Vernichtungslager.
Als der Krieg mit der Niederlage Hitlers endete, musste es für Herrn Schreiber zwangsläufig einfacher werden.
Ein neues Problem braute sich aber zusammen: die Vertreibung des deutschen Bevölkerung.
Wie können wir sinngemäß aus seinen Briefen herauslesen, die Sorge um das Schicksal seiner Verwandten war ihm näher als die Sorge um sich selbst.
Herr Schreiber versuchte sich und seine Familie zu schützen so lange er konnte, aber alle seine Versuche waren vergeblich und obwohl sie zuerst als Antifaschisten aufgelistet waren, wurden sie mit einer Strafe bestraft, die wohl schlimmer war als ein Todesurteil – Vertreibung.
In seinem Alter um 90 hätte Herr Karl Schreiber auch wegen seiner Arbeit fürs Vaterland und seine Mitmenschen, nicht zuletzt auch wegen seiner jüdischen Herkunft, eine bessere und von den Siegern eigene großzügigere Behandlung verdient.
Leider hat dies nicht stattgefunden und am 11. März 1946 war er, zusammen mit seiner Frau Sophie, der Tochter und Enkelin Ella Jíchová Margaret Hübner vertrieben worden.